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Titel
Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie


Autor(en)
Kieser, Hans-Lukas
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
439 S.
von
Mihran Dabag

Seit dem Erscheinen von Christopher Brownings Studie Ganz normale Männer. Das Reservepolizeibataillon 101 und die «Endlösung» in Polen im Jahr 1992 hat sich in der Holocaust-Forschung der Fokus zunehmend verschoben von der Untersuchung der politisch-ideologischen und/oder systemisch-strukturellen Rahmungen des nationalsozialistischen Judenmords hin zur Beobachtung der Motivationen einzelner Täter oder Tätergruppen, den sozialpsychologischen und gruppendynamischen Prozessen in Täterkollektiven und schliesslich den situationalen oder organisationalen Ermöglichungsbedingungen des Täterhandelns. Gemein ist diesen Ansätzen, dass politische Überzeugungen der Täter, ihre Intentionen und deren ideologische Hintergründe als eher unbedeutend eingeschätzt werden, wenn es darum geht, das Täterhandeln und die über Wochen und Monate durchgehaltene freiwillige Beteiligung an den Mordaktionen zuerklären.

Im weiteren Kontext dieser sogenannten «Neuen Täterforschung» ist aber zugleich auch ein neues Interesse an Führungspersonen der NSDAP wie auch den Funktionseliten der an den Vernichtungsaktionen planend und durchführend beteiligten Ämtern, Institutionen und Organisationen entstanden. Was waren das für Menschen? Wie war ihr biografischer Hintergrund, ihr sozialisatorisches Umfeld? Welchen Weg in die Politik und in die Partei bzw. die jeweiligen Institutionen und Einrichtungen hatten diese Menschen genommen? Beispielhafte Studien in diesem Zusammenhang sind die Analysen über Werner Best von Ulrich Herbert (1996) oder auch Michael Wildts kollektivbiografische Untersuchung des Führungspersonals des Reichsicherheitshauptamtes (2002).

Eine vergleichbare Forschung, in der die Persönlichkeiten, Eigenschaften und Überzeugungen einzelner Täter in den Fokus gerückt werden, um so auch ein Verständnis für die Hintergründe politisch-ideologischer Radikalisierung und letztlich auch der Diskurse und Prozesse, die zur Entscheidung für eine radikale Vernichtung führten, ist im Kontext der Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern bisher weitgehend ausgeblieben. Somit ist es ein besonderes Verdienst von Hans-Lukas Kieser mit seiner Studie Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern in dieses Forschungsfeld vorgestossen zu sein und dabei – das sei hier bereits deutlich gesagt – ein massstabsetzendes Werk vorgelegt zu haben.

Dies gelingt nicht zuletzt deshalb, weil Kieser einen Ansatz wählt, in dem die politische Biografie Talât Paschas dicht in die historischen Hintergründe und zeitgenössischen politischen Zusammenhänge eingeordnet wird und dabei nicht zuletzt auch die Vorbedingungen seines Handels und dessen teils bis heute fortwirkenden Nachwirkungen ausgeleuchtet werden. Mit der Rekonstruktion und der Analyse des Denkens und Handeln dieser, wie die Studie eindrucksvoll nachzuweisen versteht, zentralen Persönlichkeit der jungtürkischen Bewegung entsteht das aufschlussreiche Panorama der Überzeugungen und Handlungsspielräume eines Akteurs, wie auch der Strategien zur Umsetzung seiner politischen Visionen. Gerade dieser multiperspektivische, polykontextual ausgerichtete Zugriff führt dazu, dass die Studie gekonnt den Rahmen der politischen Biografie einer Einzelperson in Richtung der Aufschlüsselung eines komplexen Netzwerks von Akteuren überschreitet und dabei die hochdynamischen Diskurse innerhalb der jungtürkischen Partei in einem Ringen um die Transformation des Osmanischen Vielvölkerreichs und die Gestaltung eines türkischen Nationalstaats sichtbar werden. Nicht zuletzt kann Kieser so auch die verschiedenen Optionen herausarbeiten, die von den «radikalen Spitzenakteuren» (S. 50) – teils durchaus kontrovers – erwogen wurden. Beispielhaft sei hier auf die von Kieser gezeichnete Rolle Mehmed Cavids hingewiesen, eines jungtürkischen Politikers, der in enger Verbindung zu Talât stand, von den radikalen Massnahmen und Vernichtungsstrategien entsetzt war, sich jedoch den radikalen Entscheidungen Talâts nicht entgegenzustellen wagte. In intensiven, auf einem äusserst umfassenden Pool archivalischer wie veröffentlichter Quellenmaterialien gründenden Analysen zeigt Kieser so, dass es insbesondere die Verbindung von Ziya Gökalp als intellektuellem Vordenker und Talât Pascha als ideologisch gefestigtem, entschlossenem Praktiker war, die eine radikale, auch Massenvernichtung einschliessende Bevölkerungspolitik zum Mittel der Wahl werden liess, um die Vision einer neuen Türkei zu verwirklichen.

Überzeugend korrespondiert der Aufbau der Studie mit dem leitenden Argument. So setzt die Erzählung nicht etwa mit der Jugend Talât Paschas ein, sondern mit der Situation des Jahres 1915. Dieser erste Teil eröffnet das Buch nachgerade mit einer Engführung der Gesamtargumentation, in der ausgehend von der Schilderung der Ereignisse des Frühjahrs 1915 die ideologischen und politischen Entwicklungslinien, die leitend für die von Talât hier getroffenen Entscheidungen waren, zurückverfolgt, zugleich aber auch deren Bedeutung und ihr Fortwirken in den Kemalismus der 1920er Jahre hinein und darüber hinaus bis in die politischen Strategien der AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan nachgezeichnet werden. Nach diesem äusserst konzentrierten Einstieg werden die hier aufgeworfenen Aspekte dann in fünf chronologisch vorgehenden Kapiteln materialreich und umfassend ausgearbeitet, wobei die Biografie Talât Paschas stets als Ausgangs- und Zielpunkt komplexer politischer, sozialer und kultureller Kontexte dient, vor deren Folie die politische Biografie dieses Akteures plausibilisiert wird. So erscheint Talat Pascha schliesslich als ein exemplarischer politischer Akteur in einem Netzwerk von Reformern, Nationalisten und Revolutionären. Zugleich wird in der engen Auseinandersetzung mit Person und Persönlichkeit Talât Paschas jedoch auch dessen Hervortreten aus der Gruppe als entschlossene Führergestalt verständlich. In Talât Pascha, so Kiesers Interpretation, begegne ein Prototyp jener Politiker, die nach 1920 auf fatale Weise die Geschichte Europas bestimmen sollten, er habe «das Zeitalter der Extreme eröffnet und einem Europa der Diktaturen den Weg bereitet» (S. 47). Diesen Zusammenhang aus einer Perspektive erarbeitet zu haben, die den Fokus der Geschichtsschreibung – in deren Zentrum mit Blick auf den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen bis heute stets Europa steht – verschiebt auf Akteure in einer Region, die lange Zeit als peripher und wenig bedeutend für die politischen Entwicklungen Europas eingeschätzt wurde, ist ein weiteres Verdienst von Lukas Kiesers wertvoller Studie. Hervorzuheben ist dabei auch ihr äussert gelungener Stil: Trotz des Materialreichtums und der wissenschaftlichen Fundiertheit (anzumerken wäre hier allein, dass man sich bisweilen eine etwas höhere Nachweisdichte gewünscht hätte) liest sich die Studie nachgerade wie ein Roman, der den Leser mitten in das Geschehen hineinführt, in dem die Spannung und Atmosphäre der Zeit, die Hitze der politischen Debatten, die schliesslich zum Entschluss zu einer Vernichtungspolitik geführt haben, eindrucksvoll eingefangen und spürbar gemacht werden.

Zitierweise:
Dabag, Mihran: Rezension zu: Kieser, Hans-Lukas: Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 472-474. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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